Ötzis leggins

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ulfr
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Ötzis leggins

Beitrag von ulfr »

In den letzten Tagen habe ich mich damit herumgequält, die Beinkleider des Ötzi 1:1 nachzubauen. Dabei sind mir mehrere Fragen in den Sinn gekommen, die ich gern mit Euch diskutieren würde:

Bisher haben wir die leggins immer aus einem Ziegenfell genäht - Trapezoid geschnitten, eine lange Kante mit Kunstsehne runtergenäht, Röhre fertig. Verbrauch an Nähfaden ca. 1,20 m, Arbeitszeit eine gute Stunde pro Röhre. Jetzt hab ich mir mal die Mühe gemacht und die Beinlinge originalgetreu repliziert, also fast jede Naht wie beim Original genäht.

Bild

Bild

Auffällig:
1) Statt 1,2 m Faden für einen leggin hab ich ca. 16 m gebraucht!!! Selbst wenn man annimmt, dass meine Nähte etwas gröber geworden sind und ich vielleicht etwas enger genäht habe, steckt in einem Beinling das vielfache an Nähmaterial und Arbeitszeit, daran war offenbar üpberhaupt kein Mangel, wohl aber an Fell.

2) Der linke leggin hat oben einen Umfang von 45 cm, der rechte von 52. Verschiedene Beine oder Beinlinge, die nicht zueinander gehören? Unten sind die Röhren so eng, dass sogar ein Kinderfuß nur knapp durchpasst ...

2) Schaut man sich das Muster der zusammengenähten Stücke an, dann fällt auf, dass es nichts regelhaftes gibt. Beim Mantel kann man immerhin sagen, dass er abwechselnd aus gerade schwarzen und weißen Fellstreifen zusammengesetzt ist, die so angeordnet wirklich ornamentativ wirken. Bei den Beinlingen ist das nicht so, die Anordnung ist völlig willkürlich, folgt keinem Muster. Teilweise sind eingesetzte Stücke kleiner als ein Fingernagel! In den Fundbeschreibungen hört es sich so an, als hätten die Beinlinge ursprünglich auch nur aus zwei Röhren bestanden, die dann nach und nach mit Flicken bedeckt wurden. Das erschließt sich mir aus den Plänen und bei der Arbeit jedoch nicht. Ich vermute vielmehr, dass beide Beinlinge von Beginn an aus einer Vielzahl von Flicken, Fetzen und Stücken bestanden, die - so wie sie passten - aneinandergenäht wurden, um im Endeffekt eine große Fläche zu ergeben.
Gründe dafür könnten sein (nachdem Schmuckmuster m.E. als Erklärung ausfallen):

Tarnung: Fällt imho auch aus, da ein reines Fell schon Tarnung genug ist. Außerdem ist es für Camou nicht nötig, Fellstücken von weniger als 1 qcm Fläche zusammenzunähen.

Fellmangel: Verfügten die endneolithischen Alpenbewohner vielleicht über so wenig Fell, dass jedes Fitzelchen zu Kleidung verarbeitet wurde? Einige Flicken weisen Spuren einer Sekundärnutzung auf. Warum war das so? War Gerben so schwierig und aufwändig? Durfte nichts weggeworfen werden? War Ötzi ein Bedürftiger, dem alle Dorfbewohner ein Stück von der Beute abgaben, damit er nicht nackich rumlief? War Ötzi der Clan-Clown, der Flickenteppich sein Kostüm?

Was meint Ihr?

fragt der ULFR, der Ziegen nicht mehr sehen oder riechen kann.
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Fridolin
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Beitrag von Fridolin »

Puhhh, interessante Frage.
Wenn Ötzi ein armer Schlucker war würde das bedeuten, dass sich nahezu jeder Kupferzeitler ein Kupferbeil leisten konnte, hm...

Andererseits zieht man bei einem Aufstieg ins Gebirge nicht unbedingt die „Sonntagshose“ sondern eine Arbeitsleggings an, vorausgesetzt, Ötzi hatte mehrere Leggings. Aber vielleicht war es einfach nur sein Lieblingskleidungsstück? Ötzi war auch nur ein Mann....

Viele Grüße

Fridolin
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Bullenwächter
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Beitrag von Bullenwächter »

Die unterschiedlichen Größen der Leggins können möglicherweise durch eine Schrumpfung während der jahrtausendelangen Lagerung zurückzuführen sein.

Gibt es Analysen aus wie vielen Tierhäuten (wie vieler Individuen) die Beinlinge hergestellt wurden, welche einzelnen Fellstücke zusammen gehörten bzw. ob die Fellstücke eventuell einzelnen Tieren zuordbar sind?

Das könnte veilleicht einen Hinweis darauf geben ob sie von Anfang an so gestückelt angelegt wurden (möglicherweise geringe Anzahl von Tieren) oder ob sie nach und nach über einen längeren Zeitraum geflickt wurden (größere Anzahl von Tieren) - Das wäre jetzt mal eine Vermutung von mir.
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Chris
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Beitrag von Chris »

eine weitere Möglichkeit wäre die nahezu 100%ige Ausnutzung der getöteten Tiere, die ja in einigen Jäger- und Sammlerkulturen neuerer Zeit zu beobachten ist...

da könnte man als Arbeitshypothese annehmen, das es sich bei den Beinlingen um einen Nachweis dieser möglichst vollständigen Nutzung handelt:

bei einem Zuschnitt in ornamentalen Streifen wie bei der Jacke fällt ja relativ viel Verschnitt an, der auf diese Art für Alltags- / Arbeitskleidung genutzt werden kann, statt "Abfall" zu werden :idea:

ich habe Jörgs "Lederjacke" ja auch aus großen Stücken in Streifendesign genäht - aus den Verschnittresten würde ich auch einen Beinling hinkriegen... Super Idee übrigens, sollte ich vielleicht mal machen :D
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LS
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Beitrag von LS »

Moin,
ich tippe auf eine rein emotionale Bindung des Herrn Ötzmann zu seinen Leggings, so wie wir das in den 70ern und 80ern zu unseren völlig verbastelten Patchwork-Jeans hatten. Schon vergessen?
Tja, wenns noch Argumente braucht: Der Köcher ist aus gutem Leder gemacht, ohne maximale Effizienz was Lederausnutzung betrifft.

Gruß L
Manu

Beitrag von Manu »

Es sind schon ein paar Jahre her, als ich aus Ziegenfell Leggins hergestellt habe, angelehnt an die Ötzi-Funde. Aus Zeitgründen und Fingerschongründen, habe ich sie am Stück genäht. Auch mir hat sich damals nicht erschlossen, warum solche z.T. so winzigen Fellreste genutzt wurden und habe mich schließlich auch mit dem Gedanken zufrieden gegeben, dass es Flicken sind, die nach und nach dazugekommen sein müssen. (Aber so viele :? )
Da ich aber auch Freudinnen habe, die dem Quilten zugeneigt sind, weiß ich mit welcher Beflissenheit und Ausdauer jedes Fetzelchen Stoff verwertet wird. Man sammelt und hat dann eine Art Schatzkistchen, in dem man jede Form und Farbe finden kann, um eine spezielle Decke oder Tasch o.ä. herzustellen.
Auch kennt man die Lumpensäcke, wo man wertvolle Stoffe von einem kaputten Kleidungsstück sammelt und zum Schluß noch was "Tolles" daraus näht.

Bullenwächter schrieb:


Gibt es Analysen aus wie vielen Tierhäuten (wie vieler Individuen) die Beinlinge hergestellt wurden, welche einzelnen Fellstücke zusammen gehörten bzw. ob die Fellstücke eventuell einzelnen Tieren zuordbar sind?

Das wäre interessant zu wissen.


Ich finde den Gedanken, Abfälle von getragenen und ungetragenen Fellresten zu sammeln und wieder etwas sinnvolles herzustellen am einleuchtensten für mich.


ulfr:
Unten sind die Röhren so eng, dass sogar ein Kinderfuß nur knapp durchpasst ...
Damit habe ich mich damals auch rumgeschlagen, habe dann kleine "Schlitze" gemacht. Ist aber unbefriedigend. Allerdings beim Schrumpfung über die Jahrtausende, ok.
Und natürlich so eng als möglich wegen Schnee und Wind.

Ich liebe Ziegen und Ziegenfell so sehr
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ulfr
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Beitrag von ulfr »

Danke!
Chris, dann wäre es nicht nötig, die Reste erst in so viele kleine Streifen zu schneiden und sie dann wieder zu vernähen. Die Reste der Jacke - angenommen, daraus wären die leggins zusammengeschustert worden - kann man mit nur wenigen Nähten in die nötige Fläche (Abwicklung) der Hosen verwandeln.

Leif, klar hatte ich solche "Jeans", aber wenn ich die auseinanderschnitt - was man ja gemacht hat, wenn der Stoff so brüchig wurde, dass auch weitere Flicken nicht geholfen hätten, aber die unteren Beine waren ja immer noch so gut, dass man die nächste Jeans damit flicken konnte - dann war doch immer noch ein Grundgerüst erkennbar, also das ursprüngliche Schnittmuster. Das fällt mir besonders beim linken Beinling schwer, der rechte ist zumindest in der einen Hälfte aus einem Stück, das ist noch erkennbar.

Edith:
Bullenwächter, eine solche Analyse gibt es (müsste ich jetzt nachgucken ...) aber demnach ist es sogar schwierig, zu bestimmen, von welcher Tierart die einzelnen Stücken sind, es kommen in Betracht Ziege, Reh, Hirsch, Elch, Gämse, Steinbock! Umso schwieriger sollte es ein, zu klären, ob einige der Stücken zusammengehören ...
Zuletzt geändert von ulfr am 15.02.2011 13:04, insgesamt 1-mal geändert.
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Manu

Beitrag von Manu »

Übrigends, die Leggins sind SUPER geworden.

:nähen:

Ich würde gerne mal ein Bild sehen, wenn jemand die Leggins trägt, natürlich mit Lendenschurz.

Das wär super.
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ulfr
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Beitrag von ulfr »

Musst Du noch ein bisschen warten ...
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Manu

Beitrag von Manu »

Ach noch was, glaubt ihr, das Fell wurde nach innen oder nach außen getragen?

Gibt ja nur nach innen getragen wirklich warm, oder?

Ich tendiere immernoch nach: erst sammeln große Stücke ausbessern (runde Stücke im rechten Leggin) und dann was draus machen.
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Bullenwächter
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Beitrag von Bullenwächter »

ulfr hat geschrieben:
Bullenwächter, eine solche Analyse gibt es (müsste ich jetzt nachgucken ...) aber demnach ist es sogar schwierig, zu bestimmen, von welcher Tierart die einzelnen Stücken sind, es kommen in Betracht Ziege, Reh, Hirsch, Elch, Gämse, Steinbock! Umso schwieriger sollte es ein, zu klären, ob einige der Stücken zusammengehören ...
Von welcher Tierart die Fellstücke stammen wäre für die aktuelle Fragestellung erst einmal sekundär. Ich denke es sollte bei Ötzis Beinlingen gentechnisch möglich sein die Fellstücke einzelnen Individuen zuorden zu können. Das ist zwar eine aufwändige und teure Angelegenheit, aber das Verteilungsmuster auf den Beinlingen wäre sicher äußerst interessant für die Interprätation der vorligenden Stückelung.

Soweit ich Konrad Spindlers publikation Der Mann im Eis. Neue sensationelle Erkenntnisse über die Mumie in den Ötztaler Alpen ím Gedächtnis habe wurden die Beinlinge mit der Fellseite nach Außen getragen.
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ulfr
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Beitrag von ulfr »

Jep! Das bedeutet zusätzlichen Trageunkomfort, die vielen Nähte, aus denen immer wieder kratzende Ziegenhaare rausgucken, müssen sehr auf der Haut gerieben haben. Mit der Zeit legt sich das wohl ein bisschen, weil sich die Nähte rundschubbern, aber angenehm fände ich das trotzdem nicht. Aber das ist die Meinung eines Jetztmenschen...
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Manu

Beitrag von Manu »

Und jetzt wie immer die Diskussion, warum dann überhaupt die Haare am Fell/Kleidungsstück belassen wurde. Oder fallen die Haare sowieso ab beim Tragen.
So lange hatte ich die Ziegenfellleggins noch nicht an.

Oder sollte es damals schon gut aussehen, who knows ...

Ich mag nur nicht so sehr die "Ötzi Darstellungen" bei denen man ausser dem super Fell fast nichts mehr sieht. Das sieht komisch aus, oder ?
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Chris
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Beitrag von Chris »

ulfr hat geschrieben: Chris, dann wäre es nicht nötig, die Reste erst in so viele kleine Streifen zu schneiden und sie dann wieder zu vernähen. Die Reste der Jacke - angenommen, daraus wären die leggins zusammengeschustert worden - kann man mit nur wenigen Nähten in die nötige Fläche (Abwicklung) der Hosen verwandeln.
...
da habe ich mich wohl mißverständlich ausgedrückt - ich meinte nur, das mein Verschnitt schon bald für einen Beinling reichen würde - nicht, daß der Verschnitt von Ötzis Jacke den Beinling ergeben hätte...

ich stelle mir das so wie Manu vor mit ihrer "Schatzkästchen"-Theorie: man sammelt von diversen Nähprojekten Verschnitt + noch verwendbare Stücke von getragenen Kleidungsstücken
und bei Bedaf näht man dann daraus etwas "Neues"
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Steve Lenz
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Beitrag von Steve Lenz »

Mal davon ausgehend, dass es sich bei den Beinlingen eher um Spezialbekleidung für Hochtouren handelt:

Wetterschutz. Aus eigener Erfahrung, gesammelt in Höhen über 4000m, kann ich sagen, dass ein Riss in den Klamotten nach kurzer Zeit extremst unangenehm wird und die Auskühlung vorantreibt. Gebirgswinde sind gemein kalt, auch wenn die Sonne noch so runterbrennt.

Die Leggins gefallen mir gut, Wulf.
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