„Zunächst ist festzuhalten, dass die Mehrheit der Knochen Schnitt- oder Schabespurenaufweist. Die Schnittspuren besitzen System und treten an allen anatomischen Regionen des Körpers und an allen Individuen – vielleicht mit Ausnahme der Säuglinge – auf. Sie zeigen sich in der Form feiner Einschnitte, die durch den Einsatz von scharfen Silexgeräten hervorgerufen worden sind (Abb. 5). Die deutlichsten Schnittspuren stehen in Verbindung mit der Zertrennung von Sehnen und Bändern an den Gelenkenden, Schnittmarken finden sich aber auch an Stellen, wo Weichteile zu entfernen sind, wenn man den Knochen völlig entfleischen will. Feine Schnitte auf dem Schädel korrespondieren mit dem Abziehen der Kopfhaut. An Muskelansatzstellen am Knochen sind weitaus unauffälligere Schnittspuren feststellbar; hier sind sie auf die Ablösung des am Knochen anhaftenden Muskelstranges zurückzuführen. Mit senkrecht zu den Fleischfasern eingesetzten Werkzeugen wurden Schabespuren erzeugt; diese entstehen bei der Entfernung weicher Fleischreste, die noch an der Knochenoberfläche anhaften (Abb. 6). Alle Schnitt- und Schabespuren wurden offenbar am noch frischen Leichnam angebracht, da sie sämtlich mit der Durchtrennung von Muskeln und Sehnen sowie der Haut- und Fleischentfernung in ursächlichem Zusammenhang stehen.
Neben den Schnittspuren ist ein erheblicher Zerschlagungsgrad der Knochen, ebenfalls in noch frischem Zustand, zu beobachten. An der Tatsache, dass es sich hier um eine intentionelle menschliche Manipulation der Knochen handelt, besteht keinerlei Zweifel. Die Schädel wurden zu Kalotten zugerichtet, aber auch der größte Teil des postcranialen Skeletts ist stark fragmentiert. Die Zerschlagung erfolgte offenbar nach einem wiederkehrenden Schema; so ist etwa an den Langknochen der Arme und Beine regelhaft zu dokumentieren, dass die Epiphysen (Gelenkenden) zerstört und die Diaphyse (Knochenschaft zwischen den Gelenkenden) in viele Teile zerschlagen wurde (Abb. 7).“
„Selbst kleine Skelettteile wie Handknochen weisen zum Teil intentionelle Zerstörungsspuren auf. An einigen Metacarpalia (Mittelhandknochen) und größeren Phalangen (Fingerknochen) fehlen an einer oder auch beiden Seiten die Epiphysen, und die zerstörten Knochenenden sind möglicherweise, so die Interpretation des Anthropologen, intentionell abgekaut worden. An kleinen Knochen sind an einigen Stellen Spuren zu beobachten, die als Zahnabdrücke interpretiert werden könnten.“
„Die Behandlung, der die Körper unterzogen wurden, beruht auf zwei hauptsächlichen Modi-fikationstypen: der Entfernung des Fleisches und der Zerschlagung der Knochen.
Die wichtigsten Charakteristika der Zerschlagung sind folgende: große Langknochen werden besonders extensiv – aber nicht unbedingt immer in der gleichen Art und Weise – zertrümmert, wobei besonders diejenigen Knochen, die am meisten Mark enthalten, betroffen sind (Humerus [Oberarm-], Femur [Oberschenkel-] und Tibia [Schienbeinknochen]). Kleinere Langknochen (Radius [Speiche], Ulna [Elle], Fibula [Wadenbein]) sind in geringerem Maße fragmentiert. Insgesamt scheint sich die Manipulationsart sowie der Zerschlagungsgrad der Knochen an der in den jeweiligen Skelettelementen vorhandenen Menge an Knochenmark zu orientieren. Die Schnitte folgen einer spezifischen Logik und entsprechen weitgehend den Spuren, die beim Schlachten von Tieren zur Nahrungsgewinnung entstehen. Damit fügen sich die Knochenfunde aus Komplex 9 in eine Art „Metzgereimodell“ ein. Dazu passen auch die beobachteten Zerlegungen des Schulterbereiches, Schnittspuren an den Innenseiten von Knochen im Brust- und Unterleibsraum oder die abgeschlagenen Wirbelenden an der Nahtstelle zwischen Rippen und Wirbelsäule sowie die fehlenden Enden der Rippen (Abb. 9); letztere Manipulationen entstehen beim sog. „levée de l´échine“, der Heraustrennung des Rückrats aus dem noch mit Fleisch bedeckten Rücken. „
„Die mit dem Zurichten von Tieren für Nahrungszwecke deutlich vergleichbaren Spuren an den Menschenknochen von Komplex 9 führen unweigerlich zu der Frage, ob die Zerlegung der Leichen im Rahmen kannibalistischer Praktiken durchgeführt wurde. Ein Großteil der an den Knochen beobachteten Manipulationen ließe sich mit Kannibalismus gut erklären, doch ist dies nicht notwendigerweise die einzige Deutungsmöglichkeit der zerlegten Menschen von Komplex 9.“
„Deutlich erweitert werden unsere Kenntnisse nun durch die an den Menschenknochen in Komplex 9 entdeckten Manipulationsspuren, die ebenfalls bestimmten Schemata folgen. Diese belegen für die einzelnen Skelettelemente festgeschriebene, sich wiederholende Bearbeitungsmethoden, für die, so das Fazit des bearbeitenden Anthropologen, die beste und sinnvollste Erklärung eine Zerlegung und intensive Verwertung der menschlichen Körper zum Zweck der Nahrungsgewinnung – eingebettet in den rituellen Rahmen der Gesamtsituation in Herxheim – darstellt.“
Andrea Zeeb-Lanz, Bruno Boulestin
Quelle:
http://www.projekt-herxheim.de/ng_k9.htm
Hmm,
mal eine Frage an die hiesigen Kannibalismus - Kritiker:
Wie müsste ein archäologischer Befund aussehen, der Kannibalismus in Euren Augen schlüssig belegt?
Marquardt
"
Archäologie ist keine exakte Wissenschaft." (Dr. Rene Belloq)