1. Lesung des 3. Abschnitts der B-Seite des Diskos von Phaistos
Im Rahmen der 1. Lesung wird hier nun auf der Grundlage der Zeichengruppen B 9 - B 1 der Übersetzungsversuch des 3. Abschnitts der B-Seite des Diskos von Phaistos vorgestellt. Dies geschieht unter ständigem Rückgriff auf die im Jahre 2014 von Owens, Coleman und Alexopoulou veröffentlichte phonetische Transkription der piktographisch abgefassten Inschrift des Diskos (1).
Als problematisch erwies sich in der Zelle B 9 zunächst der Umstand, dass das Piktogramm Evans Nr. 42 weder Arthur Evans selbst (2), noch Luigi Pernier (3) im Vorfeld interpretiert worden ist. Zudem wurde auch in der phonetischen Transkription von Owens, Coleman und Alexopoulou die sprachliche Tonalität dieses Bildzeichens ausgespart. Anlässlich der Frage, wie dieses Zeichen sinnvoll in phonetische Umschrift zu übertragen sei, fiel hierzu das Motiv zweier Muscheln auf, welche dem einstigen Schreiber als Vorlage gedient haben dürften : Das Gehäuse der Cypraea pantherina, sowie das der Cypraea argus. Die Cypraea argus, auch Arestorides argus genannt, wurde nach dem mythischen, alles sehenden Riesen Argos bezeichnet und diente als Nahrungsmittel. Die ebenfalls im Mittelmeer verbreitete Cypraea pantherina wurde selbst noch am Unterlauf des Rheins als Beigabe in über 2000 Jahre alten Gräbern gefunden (4). Die Kypris war im Altertum als Muschel offenbar stets Attribut der Aphrodite. Die Phonetik des Piktogramms Evans Nr. 42 wurde hier daher eigenständig mit "KY" transkribiert und syllabisch offen zu KY [ZO] ergänzt, wobei der abschließende Konsonant S wie so oft fehlt.
Auf das Zeichen Evans Nr. 42 (Kypris) folgt dann in Zelle B 9 die Angabe einer Stadt, welche den Namen RAI ZO trägt. Dass es sich in B 9 um eine Stadt handelt, ergibt sich aus der erneut in Zelle B 3 genannten "Stadt RAI" mit dem Piktogramm des Cyperius papyrus (Zypern-Gras). Ganz ähnlich wie bereits in Bezug auf die in B 14 und B 5 genannte Stadt Tarsus, ließ der Schreiber auch in B 9 das Ideogramm für "Stadt" fehlen und erst in Zelle B 3 setzte er "Stadt RAI" in das Feld. Ebenso wie in Bezug auf die Stadt Tarsus wird hier in den Zellen B 9 und B 3 daher jeweils "Stadt RAI" gelesen. Dies wurde in B 9 mit "Rheia, die Stadt der Göttin Kypris" übersetzt und in B 3 mit "Stadt Rheia" wiedergegeben. Vermutlich handelt es sich bei dieser Stadt Rheia um Kition oder Enkomi, wobei das Piktogramm des Cyperius papyrus eher auf die Ebene von Enkomi schließen lässt (5) (6) (7) (8) (9).
Übersetzung der B-Seite des Diskos von Phaistos - 3. Abschnitt
B 9 Doch die Schiffe verließen Rheia, die Stadt der [Göttin] Kypris
B 8 [denn] der Zug des Herakles nahm [uns] in den Krieg.
B 7 erneut folgten [wir] Herakles
B 6 Gemeinsamen Ursprungs zogen wir [gegen] die Stadt Tarsus.
B 5 Erneut gab unser Heer [ihm] sein Leben.
B 4 Von hier aus fuhren unsere Schiffe [zurück] zur Kypris,
B 3 denn unsere Kinder hatten wir in der Stadt Rheia.
B 2 Von hier aus nahm Thetis [daher] die unseren auf
B 1 [und] ihr Heer erreichte die Kypris.
Ende der Übersetzung des 3. Abschnitts der B-Seite des Diskos von Phaistos. Eigenes Werk, in Allmende. Own Work, in public domain.
Anmerkungen :
B 9 : Die "[Stadt] RAI" wurde hier in Verbindung mit Zelle B 3 mit "Stadt Rheia" übersetzt (10). Das Piktogramm der Cypraea argus bzw. Cypreea pantherina wurde hier phonetisch mit Kyzos transkribiert und dann mit Kypris übersetzt (11).
B 8 : Die in der phonetischen Transkription mit JE PA gegebenen Piktogramme Evans Nr. 1 und Nr. 13 wurden hier mit "Herakles" wiedergegeben. Ohne das Piktogramm des Läufers bzw. Wanderers würde diese Stelle hier, wie weiter oben in B 19, mit "Herakliden" übersetzt worden sein.
B 7 : Das phonetisch erneut in B 7 gegebene JE PA wurde abermals mit "Herakles" übersetzt.
B 6 : Die in B 6 genannte "Stadt TAZE" wurde in Hinblick auf B 14 mit "Stadt Tarsus" in Kilikien übersetzt. Das dazu gesetzte Zeichen Evans Nr. 14 wurde von diesem mit "Manacles" interpretiert, was "Handschellen" meint (12). Doch hier wird stattdessen Pernier Nr. 23 gefolgt, welcher dieses Bildzeichen als Darstellung markanter "Berge und Täler" interpretierte. (13) Dies entspricht den topographischen Gegebenheiten, denn von Tarsus aus sieht man im Norden die Gipfel des Taurus Gebirges aufragen.
B 5 : Das Piktogramm der Purpur Schnecke steht hier als Zahlungsmittel meint soviel wie "geben" oder bezahlen. Die bei Evans Nr. 20 gemachte Angabe, dass es sich bei diesem Zeichen um eine Amphore handeln würde (14), wird hier ebenso wie die bei Pernier geäußerte Vermutung, dass dieses Zeichen das Bild eines Kruges zeigt (15), durchweg abgelehnt. Stattdessen wird hier die Auffassung vertreten, dass es sich bei dem in Zelle B 5 gesetzten Zeichen um eine Darstellung der Pelagia handelt (16) (17) (18).
B 4 : Das Piktogramm des Papyrus (Zypern-Gras) wurde phonetisch mit ZO transkribiert und steht für [KY] ZOS, was hier mit "Kypris" übersetzt wurde.
B 3 : Die "Stadt" mit dem Namen der "RAI" wurde hier mit "Stadt Rheia" übersetzt, was dem bronzezeitlichen Kition bei Larnaka, oder dem namenlosen Fundort zu Enkomi, Alt-Salamis bei Famagusta, entspricht. Das zu ihrer Darstellung verwendete Piktogramm des Zypern Papyrus deutet auf das Delta des heute versandeten Flusses Pedieos (Kanlidere) in der einst sumpfigen Mesaoria Ebene. Heute erreicht er nicht mehr das Meer und dient der Bewässerung der Felder.
B 2 : Das Bildzeichen des Rinderfells wurde mit "von hier aus" übersetzt. Gemeint ist die in B 6 genannte Stadt Tarsus. Die Piktogramme Evans Nr. 7 und Nr. 45 waren phonetisch mit TI DI transkribiert worden, was hier durchgängig mit der Göttin "Thetis" übersetzt wurde.
B 1 : Die in der Zelle B1 erneut genannte [KY]ZO[S] wurde hier abermals mit Göttin "Kypris" übersetzt. Sie war die Namensgeberin der Insel Zypern. Zugleich ist Kypris ein Beiname der Göttin Aphrodite (19).
Zur Korrektur : In Zelle B 19 muss es vermutlich "Herakles" heißen, während in B 8 und B 7 jeweils "Herakliden" zu lesen ist, denn Herakles selbst war nie in Kilikien, die Herakliden wie Mopsos und Amphilochus dahingegen sind dort gut bezeugt, etwa im Chronikon des Eusebius.
Pitassa
Literaturangaben :
(1) Owens, Gareth ; Coleman, John ; Alexopoulou, Areti : From Linear B to the Phaistos Disk, TEDx Konferenz zu Heraklion, Heraklion 2014.
(2) Evans, Arthur : The Palace of Minos at Knossos, Vol. 1, London 1921, S. 651 - 659. Siehe dort S. 651, Nr. 42 ohne Angabe.
(3) Pernier, Luigi : Il Disko di Phaestos con Caratteri Pittografici. In : Ausonia, Vol. 3, Rom 1909, S. 280 - 295. Siehe dort S. 292, Nr. 45 ohne Angabe.
(4) Galerie der Schnecken und Muscheln : Die Familie der Cypraeidae. Online unter :
https://www.schnecken-und-muscheln.de/g ... aeidae.htm mit Blick auf die Cypraea pantherina, sowie die Cypraea argus. Die gezahnte Unterseite der Cypraea diente dem Verfasser der Inschrift des Diskos offenbar als Vorlage für das in Zelle B 9 geprägte Piktogramm Evans Nr. 42.
(5) Evans, Arthur : Ebenda, S. 655. Evans verweist hier in Hinblick auf die Bildzeichen des Diskos von Phaistos auf die in Alt-Salamis (Enkomi) entdeckten Gräber der Angehörigen des Seevölkersturmes.
(6) Murray, Alexander Stuart : Excavations in Cyprus, London 1900, S. 9 - 21 u. Platte I - II. Zu beachten ist hier insbesondere auch die S. 12, Fig. 19 als Dekor gewählte Symbolik auf dem Kasten von Enkomi, welche auf der Platte I nochmals deutlich hervortritt und derjenigen des Diskos von Phaistos entspricht.
(7) Forrer, Emil : Vorhomerische Griechen in den Keilschrifttexten von Boghazköy. In : Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft, Nr. 63, Berlin 1924, S. 18 - 22. Hier wird von hethitischer Seite der von Paphos aus nach Enkomi hinüber gehende Zug des Biggaja geschildert. Zum Biggaja der hethitischen Schriftquellen siehe Herodot VII, 73. Die dort genannten Phryger wurden ursprünglich "Briger" genannt, was jenem hethitischen "Biggaja" entsprechen dürfte, welcher um 1200 v.C. Teile von Zypern eroberte.
(8) Engel, Wilhelm : Kypros - Eine Monographie, 1. Teil, Geographie, Berlin 1841, S. 12 - 13. Dieser zielt mit Epiphanios, adversus hereses I, 30 und Flavius Josephus, Jüdische Geschichte I, 7 auf Kition als der wichtigsten Stadt der auf Zypern gelandeten Pelasger ab. Siehe dazu : Engel, Wilhelm : Kypros - Eine Monographie, 2. Teil, Berlin 1841, S. 15 - 19 (Die Phryger) u. S. 19 - 34 (Die pelasgische Naturgottheit Aphrodite). Schon Engel sah die Landung der Phrygier auf Zypern, hebt dabei jedoch auf Kition ab.
(9) Unger, Franz ; Kotschy, Theodor : Die Insel Cypern, ihrer physischen und organischen Natur nach, mit Rücksicht auf ihre frühere Geschichte, Wien 1865, S. 534 (Der Tempel an der Grabstätte zu Enkomi)
(10) Ahlwardt, Christian Wilhelm : Der Attis des Catullus, Oldenburg 1808, S. 9 u. S. 17. Die Übersetzung der in Zelle B 9 und B 3 genannten "Stadt RAI" mit "Rheia" erscheint durchaus gerechtfertigt, denn die unter vielen Namen in Erscheinung tretende Gottesmutter Kybele konnte auch andernorts als Namensgeberin von Städten nachgewiesen werden, so beispielsweise im Attis des Catullus, Vers 91 für Dindyma.
(11) Roscher, Wilhelm Heinrich : Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Bd. 2,1, Leipzig 1897, Sp. 1772 - 1776. Das eigenständig in Zelle B 9 gesetzte KYZO wird hier von Kyzikos, dem König der Dolionen abgeleitet. Kyzikos war mit Larissa, der Tochter des Pelasgos verheiratet und gebar ihm einen Sohn mit Namen Phthios. Siehe dazu Euphorion, Scholion zu Apollonios von Rhodos Argonautika I, 1063. Sowie Parthenios von Nicaea 28 und Strabo, Geographica XIII 3,4. Kyzikos war der König der Pelasger, wie Euphorion, Scholion Ap. Rh. I, 948 u. I, 961 und Konon, Diegeseis 41 berichten.
(12) Evans, Arthur : Ebenda, S. 653, Fig. 484. Evans schlägt Nr. 14 für TA die Interpretation "Manacles" vor, was soviel wie "Handschellen" meint. Diese Ansicht wird hier jedoch zugunsten von Pernier verworfen.
(13) Pernier, Luigi : Ebenda, S. 287, Nr. 23. Pernier schlägt vor, das phonetisch mit TA transkribierte Bildzeichen Nr. 14 als ein markantes Gebirge mit Tälern zu interpretieren, was hier übernommen wird. Das in Zelle B 6 phonetisch mit "TA" wiedergegebene Bildzeichen könnte TA URU gelautet haben, was das nördlich von Tarsos gelegene Taurus Gebirge meint.
(14) Evans, Arthur : Ebenda, S. 651, Nr. 20. Evans schlägt vor, das Zeichen Nr. 20 als "Amphore" zu interpretieren, was den Erfordernissen der Textstelle nicht gerecht wird.
(15) Pernier, Luigi : Ebenda, S. 290, Nr. 28. Pernier schlägt vor, das Zeichen Evans Nr. 20 als "Krug" zu interpretieren, was den Erfordernissen der in Zelle B 5 geschilderten Ereignisse ebenfalls nicht gerecht wird.
(16) Rackham, Harris : Pliny Natural History, Vol. III, Cambridge Mass. u. London 1940, S. 246 - 253. Plinius schildert Lib. IX 60, 124 - 61, 132 die zunächst als Murex bezeichnete Purpurschnecke und ihre Bedeutung. In Lib. IX 61, 131 schildert er die heute als Thais haemastoma bezeichnete Pelagia : Purpurae nomine alio pelagiae vocantur. Siehe online unter :
https://www.archive.org/details/in.gov. ... ew=theater und beachte die Seiten 250 - 251. Die heute als Thais haemastoma bekannte Pelagia entspricht ganz dem in Zelle B 5 gesetzten Piktogramm.
(17) Guckelsberger, Marianne : Purple Murex Dye in Antiquity, Reykjavik 2013. Siehe online unter :
https://www.semanticscholar.org/paper/P ... fa75ad334c
(18) Bruguière, Jean Guillaume ; Lamarck, Jean-Baptiste : Encyclopédie méthodique de histoire naturelle. Tableau encyclopédique et méthodique des trois règnes de la nature, Tome 3 : Vers, coquilles, mollusques et polypiers, Paris 1827, Platte 397, Fig. 1 a u. 1 b.
(19) Engel, Wilhelm Heinrich : Kypros - Eine Monographie, 1. Teil, Geographie, Berlin 1841, S. 15 - 16. Siehe dazu beispielsweise Nonnos, Dionysiaka 16, 277 und Zonaras, Annales I, 5. Kypris, Beiname der Göttin Aphrodite.