Verfasst: 26.09.2007 09:02
Losdana,
einige Deiner Annahmen zu den damaligen Lebensumständen sind naheliegend und entsprechen sicher auch dem "gesunden Menschenverstand".
Aber vielleicht ein paar kleine, irritierende Details:
- völkerkundlich lässt sich beobachten, dass in verschiedenen (agrarabhängigen) Kulturen die persönlichen Belastungen zwischen den Kulturen sehr unterschiedlich sein können.
- Wäre das Leben im europäischen Neolithikum so ein Überlebenskampf gewesen, wären weniger Zeugnisse an "nicht-lebensnotwendigen" Leistungen (Kreisgräben, Megalithgräber, Kunstausdruck etc.) vorhanden. Es gab also entweder genug Muse oder eine gut funktionierende Arbeitsteilung.
- Man kann am medizinischen Befund von Ötzi deswegen Mangelernährung (Linien auf den Fingernägeln, Wachstumsringe in den Hohlknochen) feststellen, weil wir anhand moderner Beobachtungen wissen, welche Auswirkung auf das Skelett bei solchen Mangelsituationen entstehen. Das macht den Mangel jetzt nicht besser, aber es zeigt, das solche Situationen nicht vorgeschichtsspezifisch sind. Natürlich gab es damals genauso "alte" Menschen wie heute. Klar, die Medizin konnte bei vielen Krankheiten nicht helfen, die heute (fast) kein Problem sind. Aber auch das ist nicht vorgeschichtsspezifisch. Nicht vergessen- Prof. Dr.Sauerbruch lief Ende des 19.Jh. noch selbst direkt von einer Leichenöffnung zu einer Geburtshilfe, ohne sich die Hände zu desinfizieren.....
- ohne die Leistung Ingos irgendwie zu schmälern, eine Alpenüberquerung fand dauernd und immer statt. Und sie war immer anstrengend und gefährlich (Via Mala, der böse, schlechte Weg...19.Jh.) Auch das ist nicht vorgeschichtsspezifisch.
-wir nehmen immer so einfach eine hohe Kindersterblichkeit an. Nur - es gibt eigentlich keine Hinweise. Keine hohe Anzahl an Kindergräbern.
Eine mögliche Erklärung wäre eine wesentlich längere Stillzeit, als im 19./20./21. Jahrhundert üblich. Und da gabs in reichen Familien die Amme.
Vorteil: Längere Aufnahme der Antikörper durch die Frauenmilch.
Indirektes Indiz: Kinder werden oft genauso sorgfältig und würdevoll bestattet wie Erwachsene. Wenn dieses Ereignis allzu oft eingetreten wäre, wäre auch mit "einfacherer" Bestattung zu rechnen.
(Exkurs: "Fundlücke" gilt hier erstmal nicht so. Weil: Es besteht sicher kein Zusammenhang zwischen einer evtl. unterschiedlicher Kindersterblichkeit und den unterschiedlichen Überlieferungsbedingungen. Heißt:
Es ist nicht anzunehmen, das immer bei besseren Überlebenswahrscheinlichkeiten sich das Körpergrab auf kalkreichen Böden durchsetzte. Ergo: Die durchschnittliche Altersverteilung bei beobachtbaren Bestattungen stimmt für die beobachtete Kultur. Und da sind wirklich nicht so viele Kinder darunter, dass man von nachweislicher, erhöhter Kindersterblichkeit sprechen kann)
Klar - wir sind heute meilenweit von vielen damaligen Belastungen entfernt. Aber nicht vergessen: So richtig eigentlich erst seit vielleicht 70 Jahren.
Was uns bei solchen Rekonstruktionen des Alltagslebens immer zu schaffen macht, ist die Arbeitsteilung der modernen Gesellschaft. Einfache Überlegung: Wenn man Bauern des 19.Jh. das Experiment hätte machen lassen, wäre das kein großes Problem gewesen. Wenn man den Schmied gegen eine Töpfer ausgetauscht hätte und den damaligen (Gewehre, Feuerzeug) Feuersteinhersteller nicht vergessen hätte.
Ach ja - noch was zum Schluß:
Trotz Brandrodung, offenen Feuerstellen und nicht immer fließendem Wasser: Bessere Umweltbedingungen.
Und was wir überhaupt nicht wissen: Welchen Streß machten die sich selbst ? Da kann man/frau gerade in Ötzis?Fall tagelang drüber nachdenken....
Ich hoffe, ich konnte ein wenig Input liefern, auf dem man/frau dann ein wenig herumkauen kann, wenn man/frau will.
Thomas
einige Deiner Annahmen zu den damaligen Lebensumständen sind naheliegend und entsprechen sicher auch dem "gesunden Menschenverstand".
Aber vielleicht ein paar kleine, irritierende Details:
- völkerkundlich lässt sich beobachten, dass in verschiedenen (agrarabhängigen) Kulturen die persönlichen Belastungen zwischen den Kulturen sehr unterschiedlich sein können.
- Wäre das Leben im europäischen Neolithikum so ein Überlebenskampf gewesen, wären weniger Zeugnisse an "nicht-lebensnotwendigen" Leistungen (Kreisgräben, Megalithgräber, Kunstausdruck etc.) vorhanden. Es gab also entweder genug Muse oder eine gut funktionierende Arbeitsteilung.
- Man kann am medizinischen Befund von Ötzi deswegen Mangelernährung (Linien auf den Fingernägeln, Wachstumsringe in den Hohlknochen) feststellen, weil wir anhand moderner Beobachtungen wissen, welche Auswirkung auf das Skelett bei solchen Mangelsituationen entstehen. Das macht den Mangel jetzt nicht besser, aber es zeigt, das solche Situationen nicht vorgeschichtsspezifisch sind. Natürlich gab es damals genauso "alte" Menschen wie heute. Klar, die Medizin konnte bei vielen Krankheiten nicht helfen, die heute (fast) kein Problem sind. Aber auch das ist nicht vorgeschichtsspezifisch. Nicht vergessen- Prof. Dr.Sauerbruch lief Ende des 19.Jh. noch selbst direkt von einer Leichenöffnung zu einer Geburtshilfe, ohne sich die Hände zu desinfizieren.....
- ohne die Leistung Ingos irgendwie zu schmälern, eine Alpenüberquerung fand dauernd und immer statt. Und sie war immer anstrengend und gefährlich (Via Mala, der böse, schlechte Weg...19.Jh.) Auch das ist nicht vorgeschichtsspezifisch.
-wir nehmen immer so einfach eine hohe Kindersterblichkeit an. Nur - es gibt eigentlich keine Hinweise. Keine hohe Anzahl an Kindergräbern.
Eine mögliche Erklärung wäre eine wesentlich längere Stillzeit, als im 19./20./21. Jahrhundert üblich. Und da gabs in reichen Familien die Amme.
Vorteil: Längere Aufnahme der Antikörper durch die Frauenmilch.
Indirektes Indiz: Kinder werden oft genauso sorgfältig und würdevoll bestattet wie Erwachsene. Wenn dieses Ereignis allzu oft eingetreten wäre, wäre auch mit "einfacherer" Bestattung zu rechnen.
(Exkurs: "Fundlücke" gilt hier erstmal nicht so. Weil: Es besteht sicher kein Zusammenhang zwischen einer evtl. unterschiedlicher Kindersterblichkeit und den unterschiedlichen Überlieferungsbedingungen. Heißt:
Es ist nicht anzunehmen, das immer bei besseren Überlebenswahrscheinlichkeiten sich das Körpergrab auf kalkreichen Böden durchsetzte. Ergo: Die durchschnittliche Altersverteilung bei beobachtbaren Bestattungen stimmt für die beobachtete Kultur. Und da sind wirklich nicht so viele Kinder darunter, dass man von nachweislicher, erhöhter Kindersterblichkeit sprechen kann)
Klar - wir sind heute meilenweit von vielen damaligen Belastungen entfernt. Aber nicht vergessen: So richtig eigentlich erst seit vielleicht 70 Jahren.
Was uns bei solchen Rekonstruktionen des Alltagslebens immer zu schaffen macht, ist die Arbeitsteilung der modernen Gesellschaft. Einfache Überlegung: Wenn man Bauern des 19.Jh. das Experiment hätte machen lassen, wäre das kein großes Problem gewesen. Wenn man den Schmied gegen eine Töpfer ausgetauscht hätte und den damaligen (Gewehre, Feuerzeug) Feuersteinhersteller nicht vergessen hätte.
Ach ja - noch was zum Schluß:
Trotz Brandrodung, offenen Feuerstellen und nicht immer fließendem Wasser: Bessere Umweltbedingungen.
Und was wir überhaupt nicht wissen: Welchen Streß machten die sich selbst ? Da kann man/frau gerade in Ötzis?Fall tagelang drüber nachdenken....
Ich hoffe, ich konnte ein wenig Input liefern, auf dem man/frau dann ein wenig herumkauen kann, wenn man/frau will.
Thomas