Hallo,
es ist reiner Zufall, dass ich mich vor ein paar Monaten mit besagtem Freund vom Bodensee über mögliche neolithische Textilien unterhielt. Der meinte damals, wie oben erwähnt, dass es bei uns keine neolithischen Kleidungsreste aus gewebten Stoffe gäbe, die bekannten kleinen Fetzen könnten eben auch von Säcken o.ä. stammen. Als Anne ihren Exkurs präsentierte und ausdrücklich neolithische textile Kleidung erwähnte dachte ich, sie hätte weitergehende Informationen. Aber sie präsentierte nicht - wie in solchen Fällen üblich - Beispiele, Fundorte, Literaturangaben oder andere Quellen.
Ich hätte mich nie in die Diskussion eingeschaltet, wenn sie z.B. geschrieben hätte ?kennt man Textilfetzen, die von Kleidungsstücken stammen könnten.? Sie schrieb, dass es Kleidung aus Textilien gab, über deren Aussehen man nichts weiß. Das ist nach meinem Empfinden ein großer Unterschied, es fehlt der eindeutige Beweis. Dem Material ?gewebter Stoff? wird sozusagen automatisch eine bestimmte Funktion (Kleidung) zugewiesen. Bei ihrer Formulierung wird die eigentliche Vermutung zum Fakt erhoben, das ist es, was mich gestört hat. Um Missverständnissen vorzubeugen: mein Einwand soll Dir, Anne, keineswegs den Spaß an der Sache verderben. Leider ist die Verwendung unpräziser oder falscher Begriffe auch in archäologischer Literatur ein verbreitetes Problem.
Meine Motivation: Ich versuche mit bescheidenen Mitteln ein wenig Quellenkritik zu betreiben. Wie sicher sind die Informationen, auf die wir uns stützen? Was sind unumstößliche Tatsachen, was ist eine schlüssige Folgerung, der praktisch Beweiskraft zukommt, was sind Interpretationen bis hin zu Spekulationen oder gar Phantasien im Stile eines Erich von Däniken, die graduell immer weniger wahrscheinlich sind? Mit Wahrscheinlichkeiten zu argumentieren ist eine heikle Sache. Da spielen u.a. das individuelle Wissen aber auch der (subjektive) Standpunkt eine wichtige Rolle.
Bleiben wir beim Thema, den neolithischen Textilfetzen aus Feuchtbodensiedlungen. Keiner hat bestritten, dass es sie gibt. Beweist das pure Vorhandensein gewebter Stofffetzen zweifelsfrei, dass es daraus gefertigte Kleidung gab? Was ist dann mit Beuteln oder Säcken, mit Bettlaken, mit Bettbezügen, mit (Tisch-)Decken, mit Vorhängen, mit Markisen, mit Zelten, mit Segelbooten oder gar mit stoffbespannten Flugapparaten? Ohne Beweise kommt man in Teufels Küche!
Deshalb ist es das einfachste und natürlichste, sich auf die konkreten Fakten zu beschränken. Für die Interpretation bleibt dann immer noch genügend Spielraum. Und je mehr Indizien und Analogien die Interpretation stützen, desto wahrscheinlicher ist sie. Aber man sollte sagen/schreiben, wenn man von den harten Fakten zur Interpretation der Fakten übergeht.
Dass man in der Archäologie oft zu Interpretationen gezwungen wird, weil der Erhaltungszustand so dürftig ist: wer will einem das verübeln? Im Gegenteil, der Nichtspezialist ist dankbar, wenn ihm unverständliche Befunde und Funde anschaulich erklärt werden. Aber wo sind die Grenzen der Interpretation?
Wird die Phantasie z.B. beim Reenactment oder der experimentellen Archäologie durch ein wenig Quellenkritik eingeengt? Nein, ganz im Gegenteil. Was zurückgedrängt wird sind vorgegebene und vielleicht falsche Interpretationen und Rekonstruktionsversuche. Auf den harten Tatsachen kann man aber aufbauen. Mit neuen Ideen, mit neuen Versuchen. Wenn ich mehr Zeit habe werde ich Beispiele aus ganz verschiedenen Bereichen vorstellen. Auch naturwissenschaftliche Analysedaten können aus den unterschiedlichsten Gründen mit Fehlern behaftet sein - und es gibt genügend Raum für Fehlinterpretationen.
In der archäologischen Literatur gibt es etliche Darstellungen, die hinterfragt und überprüft, dann verifiziert oder modifiziert oder komplett berichtigt werden sollten. Dazu muss man sich aber - wenn irgend möglich - auf den Boden der nackten Tatsachen begeben. Sicherlich kommen wir oft nicht immer an Originalunterlagen oder Funde heran, es gibt aber genügend Freiräume, die wir nutzen können.
Produktives ?Querdenken? wird in diesem Forum ja bereits betrieben, Gott-sei-Dank. Beispiel:
http://www.archaeoforum.de/viewtopic.ph ... ht=schwert
Zurück zum Ausgangspunkt. Ich hatte wieder ein Gespräch mit meinem Kumpel vom Bodensee. Zum einen berichtete er von den Problemen bei der Einkleidung der freiwilligen ?Steinzeitler? des SWR - Projektes "Steinzeit - leben wie vor 5.000 Jahren", die ja bekanntlich über die Alpen latschen sollen. Lassen wir uns überraschen, für welche Materialien man sich entschieden hat und wie die Kleidung aussehen wird.
Übrigens gab es im Neolithikum bereits ?echte? Hosen. Das Lederfragment vom Schnidejoch kommt von einer (
http://www.be.ch/aktuell/Displayfile.as ... bein_12103), es ist 200 Jahre jünger als Ötzis Leggins. Aber was heißt das schon bei Unikaten?
Zu den Textilfunden aus Irgenhausen: Aus dem Neolithikum gibt es dort nur eine unpublizierte Siedlung der Horgener Kultur (siehe:
http://www.jungsteinsite.uni-kiel.de/20 ... -daten.xls.). Kommen die Textilreste doch aus der Bronzezeit, wie Sylvia meint? Ich weiß es nicht.
Mein Kumpel gab mir aber den Hinweis auf Wetzikon-Robenhausen. Von dort sind 3 neolithische Siedlungen bekannt. Zumindest die älteste (ca. 3700 v.Chr.) hat rel. viele Textilfunde geliefert. Ein paar Angaben zu den Stoffen findet man in
http://members.aon.at/textile-techniken ... SS2005.pdf
Es handelt sich größtenteils um Altfunde durch den Grundstückseigentümer Jakob Messikommer (ca. 1900). Er gilt als ein Pionier der Schweizer Pfahlbauforschung. Allerdings wurden größere Textilreste in handliche Stücke zerschnitten und verkauft!!! In Robenhausen gab es den Antiquitätenhändler H. Messikommer - Verwandtschaft?
Unter den heute noch vorliegenden Exemplaren gibt es eine (oder mehrere?) aufgenähte Tasche(n), was eher in Richtung Kleidung (Jacke, Mantel, Hose o.ä.) gedeutet werden kann als einfache Stofffetzen mit Webkante. Ich weiß aber nicht ob es noch weitere ?verdächtige? Stoffreste gibt.
In den letzten Jahren wurde in Robenhausen wieder sondiert. Eine Neubearbeitung der Fundstelle erfolgte durch Kurt Altorfer. Er hat das Verdienst, dass der eine oder andere der verkauften Textilschnipsel wieder aufgefunden wurde. Keine Ahnung, ob seine Dissertation bereits erschienen ist. Im internet bin ich auf folgende Literatur über Robenhausen gestoßen:
Messikommer, J. (1913): Die Pfahlbauten von Robenhausen, Zürich, Orell Füssli. 4°. 132 S. , 48 Taf.
Altorfer, Kurt R. (2000): Die prähistorischen Feuchtbodensiedlungen von Wetzikon- Robenhausen. Auswertung der Altgrabungen Jakob Messikommers 1858-1917 (Lizenziatsarbeit, Univ. Zürich)
ALTORFER, K., MÉDARD, F. (2000). Nouvelles découvertes textiles sur le site de Wetzikon-Robenhausen (Zürich, Suisse): sondages 1999. In : Archéologie des textiles : des origines au Ve siècle : actes du colloque de Lattes, octobre 1999. CARDON, D., FEUGERE, M. (dirs). Montagnac, Monique Mergoil (Monographies Instrumentum ; 14) : 35-75.
ALTORFER, K., HUBER, R., MÉDARD, F. (2001). Taucher, Thesen und Textilien. Plattform, t. 9/10 (2000/2001), 78-93.
Ach ja, Irgenhausen und Robenhausen liegen am selben See und nicht allzu weit auseinander. Zufall, oder gab es hier besonders gute Erhaltungsbedingungen für Textilien?
So viel für heute
Fridolin